Mein Bruder Martin Siebert erinnert sich

Martin war nur ein Jahr jünger als Hans. Beide Buben waren unzertrennlich, fast wie Zwillinge.

 

Hans (links) und Martin im Jahr 1938 vor der im Bau befindlichen Darlehenskasse in der Schloßstraße

 

Martin muss unendlich unter dem Verlust seines Bruders gelitten haben. Noch heute höre ich, wie er nach Hans rief und jammerte, wenn er abends allein in seinem Zimmer lag neben dem leeren Bett seines Gefährten. Er berichtet über diesen Tag:

 

"Die Schrecken des irrsinnigen Krieges, den 'Großdeutschland' im Herbst 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte, waren längst auch in meinem Heimatdorf Burghaun im Kreis Hünfeld angekommen. Es verging kaum ein Monat ohne Todesnachrichten von der Front.

Für „Führer, Volk und Vaterland“ waren schon so manche Burghauner gefallen, die ich seit Kindheitstagen gekannt hatte. Bis zum heutigen Tag kenne ich noch ihre Namen und erinnere mich an ihre Gesichter.

Beim Bombenangriff auf Fulda im September 1944 waren auch einige meiner Schulkameraden getötet worden, die mit mir das Domgymnasium besuchten. Ich war damals Quintaner, mein um ein Jahr älterer Bruder, Hans, war Quartaner. Wir waren Fahrschüler, die täglich mit der Bahn nach Fulda fuhren. Am Tag des Angriffes waren wir gerade noch mit dem Zug aus Fulda herausgekommen. Weniger als eine Stunde später beobachteten wir die „Christbäume“ über Fulda und wussten, dass wir noch einmal davon gekommen waren. Die Todesnachrichten am nächsten Tag waren schrecklich!

Ende September richteten einige unserer Lehrer eine Nebenstelle des Gymnasiums in Hünfeld ein, die von allen Schülern, die Höhere Schulen in Fulda besuchten, genutzt werden konnte. Diesen Lehrern sei an dieser Stelle noch einmal herzlichst gedankt, dachten sie wohl auch, dass für Hünfeld das Risiko eines Bombenangriffes relativ gering sei. Doch dann kam der 21. November 1944:

Mein Bruder Hans, sein Klassenkamerad Hans Koch, der bei uns wohnte, und ich wurden an diesem 21. Nov., wie an jedem Morgen, von unserer Mutter mit Gebet und Segen auf den kurzen Schulweg nach Hünfeld entlassen. Wir fuhren auch diese Strecke jeden Tag mit der Bahn.

Einzelheiten an den Verlauf des Unterrichtes an jenem Vormittag sind mir nicht mehr in Erinnerung, es war wohl ein 08/15 Schultag. Die nun folgenden Erinnerungen sind sicherlich bruchstückhaft und könnten durch andere Zeitzeugen ergänzt oder berichtigt werden.

Für mich haben sich die Ereignisse nach Schulschluss wie folgt unauslöschlich im Gedächtnis eingegraben:

Mit mehreren Schulkameraden machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof, unser Zug fuhr gegen 13:30 Uhr. Dr. Biba, einer unserer Lehrer, begleitete uns, da er mit dem Gegenzug nach Fulda fahren wollte. Als wir in der Nähe des Rathauses waren, gab es Voralarm. Wir hatten wohl den Rat unseres Lehrers, Dr. Sunckel, im Gedächtnis, der uns gesagt hatte, bei Alarm schnellstens aus der Stadt zu verschwinden, denn Hans Koch und ich beschlossen, den Fußweg nach Burghaun zu nehmen. Mein Bruder entschied sich für den Zug, da er stark erkältet war, und das Wetter an diesem Tag sehr regnerisch war. Ich bin ziemlich sicher, dass wir uns in Höhe des Rathauses verabschiedeten und getrennte Wege gingen. Mein Bruder muss dann mit anderen Fahrschülern den Luftschutzraum im Rathaus aufgesucht haben. Da aber nur Voralarm gegeben war sind sie dann von dort zum Bahnhof gegangen, um den Zug nicht zu verpassen. Als Hans K. und ich am Bahnübergang der „Bimbel“ – etwa 500 m von der Molkerei entfernt – angekommen waren, gab es Hauptalarm. Wir warteten dort ungefähr 10 -15 Minuten, da wir annahmen, dass Hans und einige andere Fahrschüler aus Burghaun nun doch noch versuchen würden, die Stadt zu verlassen. Da aber niemand kam, beeilten wir uns, über Hünhan nach Burghaun zu kommen. Ob wir bereits in Burghaun waren, als die Bomben fielen, kann ich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls gingen wir in Deckung wegen der Tiefflieger, die auch den Burghauner Bahnhof angriffen. Herr Folger aus Burghaun, der Dienst im Stellwerk am Bahnübergang hatte, wurde von Tieffliegern erschossen, als er die Treppe hinunter eilte, um in Deckung zu gehen.

Hans K. und ich kamen unversehrt zu Hause an. Wir wussten aber zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Bahnhofsgegend in Hünfeld schwere Bombenschäden erlitten hatte. Ich erinnere mich noch, dass es an diesem Tag Vanillepudding zum Nachtisch gab, und dass meine Mutter ein Schälchen dieser Köstlichkeit für Bruder Hans aufgehoben hatte. Es stand auf dem Serviertisch.

In Hünfeld hatten sich in der Zwischenzeit am Bahnhof und in der Umgebung des Bahnhofes Tod, Verderben und Zerstörung abgespielt. All die Menschen, die mit dem Zug Richtung Hersfeld fahren wollten, waren wohl zur Zeit des Hauptalarms im Wartesaal versammelt und wurden durch Bahnbeamte aufgefordert, in die Unterführung zu gehen, um bei Tieffliegerbeschuss vor Oberflächentreffern geschützt zu sein. Diese wohlgemeinte Vorsichtsmaßnahme war das Todesurteil für alle Menschen, die in die Unterführung gingen, denn genau in diese Unterführung schlug beim Angriff eine Luftmine ein, die alle Menschen auf der Stelle tötete. Die meisten Menschen waren bis zur Unkenntlichkeit zerrissen, so dass eine Identifikation in vielen Fällen unmöglich war. Oft waren es nur Stofffetzen, an denen man die Identität festmachte. Mein Bruder konnte von unserem Vater sofort identifiziert werden. Die Leichen derer, die nicht zerrissen worden waren, hatte man am Bahnhof bereits aufgebahrt, so blieb Vater und anderen Angehörigen von Getöteten die Suche in der Unterführung erspart. Es waren insgesamt über 20 Fahrschüler, die bei diesem Angriff umgekommen waren, davon allein drei Jungen und drei Mädchen aus Burghaun, dazu Frau Weber und Herr Folger.

Die Erinnerung an diesen regnerischen Tag damals im November 1944 ist auch heute noch in mir lebendig. Die Wunden sind geheilt, aber Narben sind irgendwo in der Psyche geblieben, auch wenn ich sie nicht genau lokalisieren kann. Für uns Kinder gab es damals keine Psychologen, die bei der Trauerarbeit geholfen hätten. Trost gab es recht und schlecht nur in der Familie und durch die Solidarität der Betroffenen. Auf meinem Bücherregal steht auch heute noch das Bild meines Bruders. Seine Schultasche, ein Schulheft und sein Schal sind Erinnerung und Mahnung zugleich. "   

Im November 2009 wurde auf dem gemeindlichen Friedhof eine Gedenkstätte für die Bombenopfer aus Burghaun feierlich eingeweiht. Leider wurden wegen bürokratischer Hindernisse Angehörige der Familien Rehberg und Weber nicht berücksichtigt. 


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Pfarrer Martin Siebert erinnert sich
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